Ein Lastwagengeräusch weckt sie. Sie hört Stimmen. Auch die Treppe. Im Flur wird es etwas lauter. Ihr kommt es vor, als würde sie Slowakisch hören. Die Stimme ist ihr fremd. Sie öffnet die Tür nicht. Kurz darauf klopft es an ihrer Tür. Waltraut ruft: Essen. Sie wartet bis Gelika die Tür öffnet. Beide gehen gemeinsam die Treppe hinunter. Gelika hört die Tür auf ihrem Flur und Schritte, die ihnen folgen. Waltraut hat Speck aufgeschnitten, Käse und ein frisches Brot aufgelegt. Es duftet im Raum. Der Fahrer des LKW kommt herein. Er grüßt freundlich. Er ist zwei Mal größer und Dicker als Slavo. Er hat genug Reserven für große Touren. Gelika muss etwas lachen bei dem Anblick. Der Fahrer lacht zurück. „Ivan“, stellt er sich vor. Gelika freut sich, einen Landsmann zu treffen. Er scheint recht ausgelöst und mitteilsam zu sein.
Beim Essen fragt sie Ivan, ob er Slavo kennt. „Nein. Für Wen fährt er?“
Gelika nennt Goran. Goran kennt er.
„Ein gutes Fuhrgeschäft. Guter Lohn.“
Offensichtlich hat Slavos Chef einen guten Ruf. Etwas Neid hört sie bei Ivan heraus. Er redet nicht darüber.
„Was machst du hier“, fragt er.
„Ich suche Arbeit als Wirtschaftshilfe.“
„Hier gibt es viel Arbeit. Schwere Arbeit wird aber nicht gut bezahlt hier. Und du musst sechs Tage arbeiten.“
Gelika bemerkt das gerade. Ganz Europa tut so, als wäre die Fünf-Tage-Woche Gesetz. Mit einem Mal steht sie vor einer Sechs-Tage-Woche. Sie schüttelt mit dem Kopf. Gesetze scheinen hier wenig zu gelten. Sie will sich das genau ansehen. Vielleicht gibt es mehr Geld dafür. Das kann sie doch gebrauchen. Deswegen ist sie hier.
Sie sitzen recht lange bei Waltraut. Die erzählt tolle Geschichten von hier. Gelika glaubt nur die Hälfte. Sie denkt, die Geschichten sind erfunden. Die klingen etwas weltfremd. Fast, wie aus dem vorletzten Jahrhundert. Trotzdem bewundert sie Waltraut. Weil sie die Geschichten recht demütig vorträgt. Als hätte das jemand Fremdes so gewollt. Ihr Leben. Fast die gleichen Geschichten erzählten ihre Großeltern. So weit, scheint das nicht auseinander zu liegen. Die Slowakei und Südtirol. Sie entdeckt Gemeinsamkeiten. Ivan auch. Er nickt oft mit dem Kopf und findet zustimmende Worte. Ivan kommt hier das vierte Jahr her. Er kennt das Haus. Er hat auch oft etwas repariert hier. Vor allem, wenn Waltraut allein war. Waltraut sagt lächelnd, er wäre bereits Hauseigentum. Hauptaktionär, fügt sie an. Bedauernd gibt sie zu, es gäbe nicht mehr all zu viele kleine Pensionen wie die hier.
„Alle wollen größer werden“, bedauert sie. „Die Gemütlichkeit ist vergangen.“
Die Tür öffnet sich. Ein Mann mittleren Alters betritt den Raum. Waltraut springt förmlich auf.
„Das ist der Chef“, ruft sie zu Gelika. “Hannes, mein Sohn.“ Sie schaut nach Oben auf seinen Gesichtsausdruck. Der ist etwas besorgt. Verdeckt. Auf dem zweiten Blick. Mit den Augen fragt Waltraut, was los ist. Hannes antwortet mit den Augen. Gelika mischt sich nicht in das optische Gespräch ein. Ivan auch nicht. Er scheint das zu kennen.
„Er hat ein Sportgeschäft in der Stadt“, sagt Waltraut ganz stolz.
Ivan kennt das. Er hat für seine Kinder dort eingekauft. Mit Rabatt.
„Ein guter Laden“, sagt er zu Gelika. Die hört interessiert zu. Sie kann nicht mitreden.
Hannes bricht das einseitige Schweigen. Wo Gelika her kommt. Wie sie ausgerechnet hier her kommt. Im Unterton fragt er sie, was sie erlebt hat. Gelika berichtet von einem Teil ihrer Erlebnisse. Sie will erst erfahren, wie die wirken auf ihre Zuhörer. Als sie von Slavo erzählt, hat sie die Aufmerksamkeit von Hannes gewonnen. Bis dahin, schien Hannes nur nebenbei zu zuhören. Gelika kann die Reaktionen schwer einschätzen. Sie hat etwas Angst davor, falsch zu reagieren. Ivan wirkt dagegen bedeutend forscher. Er spricht aus, was er denkt. Damit steckt er Hannes etwas an. Gelika freut sich. Die Runde wird lockerer.
Hannes lädt Gelika in sein Geschäft ein. Sie könnte bei ihm auch etwas Putzen. Für Lohn. Betont er. Gelika traut sich nicht, Forderungen zu stellen. Sie sieht das als Lehre. Als Eingewöhnung.